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Gottes Abwesenheit

In:  FUGE Band 2, „Profane Zumutungen“, Paderborn, Schöningh, 2008, S. 89ff.

»Es bleibt bemerkenswert, dass man in einer Zeit, da die genaueste Information zur Hexenmeisterin der Welt geworden ist, niemanden mehr antrifft, der den Menschen Nachricht von ihrem Schöpfer bringt.

Dieser ist abwesend: von den Städten, den Feldern, den Bergen und Ebenen. Er ist abwesend von den Gesetzen, den Wissenschaften, den Künsten und der Politik, von der Erziehung und den Sitten. Er ist abwesend selbst vom religiösen Leben, in dem Sinn, dass jene, die noch seine innigsten Freunde sein wollen, seiner Gegenwart nicht mehr bedürfen.

Gott ist abwesend, wie er es nie zuvor war. Der Gemeinplatz der Psalmen, der die alten Hebräer erzittern ließ, das »ne dicant gentes: ubi est Deus eorum?«, ist endlich in seiner Fülle verwirklicht.1 Dazu wurden nicht weniger als neunzehn Jahrhunderte Christentum benötigt.

Gewiss werden die Christen einwenden, Gott sei überall, im Himmel, auf Erden und in der Unterwelt. Aber diese für eine weder an Himmel noch an Hölle glaubende Menge beruhigende Allgegenwart, die deshalb nicht einmal mehr einen genauen Begriff von der Erde hat, ist als Formel gleichwertig mit unendlicher Abwesenheit.

Abwesenheit ist eines der Attribute Gottes geworden. Damit vollendet sich die Abdankung eines Schöpfers, dessen die Menschen nicht mehr bedürfen, seitdem man Besseres erfunden hat als das Paradies. Gott ist auf die gleiche Weise abwesend, wie er anbetungswürdig ist, so sehr, dass man meinen sollte, man müsste das Gegenteil des Katechismus erlernen und die ewige Seeligkeit bestünde vor allem darin, ihn nicht zu sehen.

Alles, bloß das nicht! Hierin liegt die große Angst der Menschheit. »Non poteris videre faciem meam«, »wer immer mich sieht, wird des Todes sein«, wurde Mose erklärt. Das Menschengeschlecht hat sich von diesem Wort nie erholen können. Wenn es zur Zeit der Heiligen kaum erträglich war, wie wäre es das in der unsrigen? Ohne das übernatürliche Leben, von dem die Völker sich immer weiter entfernen, ist die Schau Gottes nicht einmal vorstellbar, der bloße Gedanke, ein Gott könne gesehen werden, hörte nur auf, unsinnig zu sein, um ein Anlass des Entsetzens zu werden.

Gesagt wird, die reinen Herzens seien selig, »weil sie Gott sehen werden«. Deshalb hoch die unreinen Herzen, die verwesten, von Unrat und Dämonen bewohnten! …

Sicher, die sich noch für Christen halten, reden nicht so; aber ihre notwendige Wahl musste gar sehr so ausfallen!

Der Tag wird kommen, er ist vermutlich sehr nahe, da alle Heuchelei in ihrer verzweifelten Lage und die gesamte Welt gezwungen sein wird, anzuerkennen: Wir sind ganz und gar ohne Gott. Man kann mit Recht vermuten, dieses Fest werde zu Beginn des nächsten Jahrtausends stattfinden. Aber da zu diesem Zeitpunkt jedermann in Automobilen oder auf Fahrrädern sitzen wird, kann die Gelegenheit, vor Freude aufzuhüpfen, von fast niemandem wahrgenommen wer-den. Man wird sich damit begnügen, mit größter Sorgfalt die wenigen bedauerlichen Fußgänger, die den vorausgegangenen Vernichtungen entrannen, zu überfahren und dem doppelten Abgrund entgegenzurasen, der von den scheußlichen Maschinen herangerufen wird: dem Schwachsinn der Männer und der Sterilität der Frauen. Man wird sich in Verwesung und Wahnsinn amüsieren.

Nun denn, in Erwartung dieser Dinge, zur gegenwärtigen Stunde, da das Sturmgeläut des Weltendes noch nicht wirklich begonnen hat, in dieser beinah letzten Minute, wo noch etwas von dem überdauert, was die Passion des Gottessohnes in all seinen Gliedern war, und wo ein paar Seelen sich hinter dem grässlichen Haufen verspätet haben und noch leiden können, wie man einst litt am Gedanken, dass der Gott Himmels und der Erde unauffindbar ist: in einem solchen Augenblick, der ungefähr der des Todes ist, darf man sich wirklich fragen, ob das Bild nicht ebenso abwesend ist wie das Urbild, ob es in einer Gesellschaft ohne Gott überhaupt noch Men-schen geben kann?«